top of page

„Mitten im Winter habe ich erfahren, dass es in mir einen unbesiegbaren Sommer gibt."

Albert Camus

retouch_2025070916172451 (1)_edited.jpg

Resilienz – ein Wort, das uns derzeit überall begegnet.


In Diskussionen über Wirtschaft, Politik, Gesellschaft. Resilienz im Gesundheitssystem, im Bildungssystem, im Klima. Und natürlich: beim Menschen.

Der Begriff stammt ursprünglich aus der Materialkunde. Resilire - lateinisch: zurückspringen, abprallen. Gemeint ist die Fähigkeit eines Materials, sich nach Druck oder Verformung wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen. Robustheit.

Auf Menschen übertragen bedeutet das: Widerstandskraft. Die Fähigkeit, mit Rückschlägen umzugehen. Nicht unberührt zu bleiben - aber auch nicht dauerhaft beschädigt zu werden. Wir kennen solche Menschen: Sie wirken stabil, ohne starr zu sein. Ruhig, ohne abgeklärt zu wirken. So, als gäbe es in ihnen etwas, das bleibt - auch wenn außen alles wackelt. Sie erstaunen uns.

Und trotzdem: Das Bild vom Menschen, der einfach zurückschnappt wie Gummi, passt für mich nicht. Die Seele nimmt Spuren mit. Sie trägt Beulen, sie kann Narben behalten. Und sie heilt nicht immer in den Ursprungszustand zurück. Vielleicht geht es auch gar nicht darum.

Was ist Resilienz wirklich?

Ist Resilienz ein Charakterzug? Etwas, das man hat oder nicht? Wird sie vererbt? Ist sie eine Strategie? Oder ein Prozess? Vielleicht eine Fähigkeit, die man entwickeln, pflegen und stärken kann? Oder ist sie eine Haltung – das Vertrauen, nicht aufzugeben, auch wenn man noch nicht weiß, wie es weitergeht?

Etwa 30 bis 50 Prozent der Resilienz gelten als genetisch beeinflusst. Die übrigen 50 bis 70 Prozent entstehen durch Umweltfaktoren, Erfahrungen, soziale Beziehungen und persönliche Entwicklung.

Resilienz ist kein neuer Begriff, doch in den letzten Jahren hat er deutlich an Bedeutung gewonnen. Besonders bekannt wurde er durch die sogenannte Kauai-Studie der Psychologin Emmy Werner.

Emmy Werner erforschte im Jahr 1955 auf der hawaiianischen Insel Kauai den gesamten Jahrgang von 698 Kindern. Ziel der Langzeitstudie war es, die Auswirkungen vorgeburtlicher Belastungen und schwieriger früher Kindheitserfahrungen zu untersuchen. Die Kinder wurden über einen Zeitraum von 40 Jahren hinweg regelmäßig begleitet.

Etwa ein Drittel dieser Kinder wuchs unter belastenden Bedingungen auf – darunter Armut, familiäre Konflikte oder psychische Erkrankungen der Eltern. Dennoch entwickelte sich rund ein Drittel dieser Risikogruppe auffallend stabil. Sie zeigten keine größeren Verhaltensauffälligkeiten und meisterten ihr Leben trotz der widrigen Umstände. Die übrigen zwei Drittel der Risikokinder hingegen litten häufiger unter psychischen Problemen, schulischen Schwierigkeiten oder sozialen Herausforderungen.

Werner erklärte diese Unterschiede durch sogenannte protektive Faktoren, die Resilienz fördern:

  • Innere Schutzfaktoren: frühe Selbstständigkeit, gute Problemlösefähigkeiten, Eigenschaften, die positive Reaktionen bei Erwachsenen auslösen

  • Familiäre Schutzfaktoren: eine stabile Bezugsperson, Schulbildung der Mutter, ausreichend Abstand zum nächsten Geschwisterkind

  • Externe Schutzfaktoren: Freundschaften, Ersatzbezugspersonen, unterstützende Lehrer.

​​

​​

Ich unterrichte in einer Einrichtung der Erwachsenenbildung zu Themen wie Gesundheitsmanagement, Resilienz und Selbststeuerung. Themen, die mich persönlich interessieren und mit denen ich über die Jahre nicht nur theoretisch, sondern auch lebensnah viele Erfahrungen gesammelt habe.

Was ich besonders mag: Theorie, Praxis und persönliche Geschichten miteinander zu verweben. Meine Präsentationen sind entsprechend gefüllt mit Modellen, Forschungsergebnissen, Zahlen, Übungen.

Aber auch mit Fragen, die andere Perspektiven beleuchten wollen. Ist Resilienz wirklich die Antwort auf alles? Auf die Klimakrise, soziale Ungleichheit, mentale Erschöpfung? Reicht es, wenn wir alle nur anpassungsfähiger werden oder sollten wir nicht vielmehr lernen, die Ursachen mutiger und entschiedener anzugehen?

Ist unsere Gesellschaft vielleicht schlicht nicht mehr geübt im Umgang mit Verlusten? Geprägt vom Fortschrittsglauben, wie Andreas Reckwitz es beschreibt, auf der anderen Seite der Druck, dass jetzt alle stark sein müssen.

Doch was passiert mit denen, die von Verletzbarkeit stärker berührt sind? Wer gibt ihnen Raum, wer hört hin?

Während der Vorbereitungen denke ich immer wieder an meine Großmutter. Als Kind verlor sie ihren Bruder bei einem Unfall. Sie überlebte den Zweiten Weltkrieg, wurde vertrieben, lebte im Flüchtlingslager. Verlor einen weiteren Bruder im Krieg. Pflegte jahrzehntelang ihre schwerkranke Tochter, zog drei Kinder groß. Ihr Mann kam seelisch gebrochen aus dem Krieg zurück. Einen Schwiegersohn verlor die Familie bei einem Autounfall. Sie hat immer gearbeitet.

Hätte ich sie gefragt: „Oma, bist du resilient?“ Sie hätte mich wohl nur fragend angeschaut. Mit dem Begriff hätte sie nichts anfangen können. Und doch war sie es. Stark. Verletzbar. Das Leben hat es ihr abverlangt.

In meiner Ausbildung zur Trauerbegleiterin habe ich viele Menschen kennengelernt, die im Katastrophenschutz arbeiten. Menschen, die täglich mit großem Leid und Krisen anderer konfrontiert sind.

Welche Theorie hilft ihnen in solchen Momenten? Oder ist es nicht vielmehr die innere Haltung, die trägt? Die Klarheit über das eigene Warum? Fertigkeiten? Der Mut, mit offenem Herzen präsent zu bleiben, auch wenn es schwer ist. Den Beruf einfach gut zu machen.

Auffällig war: Sie hatten viel Humor. Und eine besondere Wachsamkeit.

Viktor Frankl, Psychiater und Überlebender von vier Konzentrationslagern, beschreibt in „…trotzdem Ja zum Leben sagen“ eine besondere Kraft im Menschen. Die Freiheit, sich zu seiner Situation zu verhalten.

Was half ihm und anderen im Grauen nicht unterzugehen? Was ermöglichte es, zu überleben, soweit das unter solch unmenschlichen Bedingungen überhaupt möglich war? Wahrscheinlich keine Theorie. Sondern etwas Tieferes: eine innere Haltung. Ein letzter Rest Würde. Eine Entscheidung.

Selbst im Elend des Lagers gab es Menschen, die versuchten, ihre Menschlichkeit zu bewahren.

In einer Fernsehsendung sprachen Claus von Dohnanyi und Giovanni di Lorenzo über ihre Mütter, beide sichtlich bewegt.

Claus von Dohnanyi ist der Sohn von Hans von Dohnanyi, der 1944 am Attentat auf Hitler beteiligt war. Die geplante Bombe explodierte nicht, das Attentat scheiterte. Hans von Dohnanyi wurde verhaftet, ins Konzentrationslager gebracht und später hingerichtet.

Der heute über 90-jährige Politiker erinnerte sich daran, wie seine Mutter ihm in dieser schweren Zeit jeden Abend eine Gutenachtgeschichte erzählte, während ihr Mann im KZ um sein Leben kämpfte. Mit tiefer Stärke hielt sie den Alltag aufrecht, tröstete ihre Kinder und bewahrte Haltung.

Christine von Dohnanyi, geborene Bonhoeffer (1903–1965), war die Schwester des evangelischen Theologen und Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer.

Resilienz ist kein Wohlfühlthema.

 

Es geht nicht darum, zwei Workshops zu besuchen und dann sagen zu können: „Jetzt bin ich resilient.“

Resilienz ist viel mehr. Sie ist ein Prozess, keine Abkürzung. Die sechs bekannten Faktoren: Optimismus, Sinn- und Werteorientierung, Selbstwirksamkeit, soziale Beziehungen, Zukunftsorientierung und Selbstregulation geben Orientierung. Doch sie allein sind noch kein gelebtes Leben.

Denn ist es nicht vielmehr das Leben selbst, das uns resilient macht?
Die Brüche. Die Zweifel. Die kleinen Schritte. Die Menschen an unserer Seite.
Und doch zeigen Forschungen: Resilienz ist trainierbar. Sie lässt sich stärken.
Aber wie haucht man diesen sechs Faktoren Leben ein, so dass sie wirklich zu einem selbst passen?

Vielleicht so:
Indem man zuhört.
Sich ehrlich mitfreut mit einer Freundin oder einem Freund.
Weiteratmet, auch wenn der Atem brüchig ist.
Sich über ein erreichtes Ziel freut.
Die Abendsonne genießt.
Gefühle ernst nimmt, ohne sich im eigenen Tunnel zu verlieren.
Nein sagt, wenn es nötig ist.
Eigene Stärken lebt.
Sowohl-als-auch denkt.
Ermutigende Geschichten erzählt.
Hilfe annimmt. Und Hilfe gibt.

Und nicht zuletzt: Indem man Demut übt.
Weil wir, bei allem Streben, doch auch nur ein bisschen Sternenstaub im Universum sind.

Was ist es bei dir?

​​

​​​​​​​​​​​​​​

​​​​

Design (1)_edited.jpg

Hier eine Übung:
Denk an eine aktuelle Herausforderung.
Wie würdest du dich in Bezug auf die sechs Resilienzfaktoren einschätzen?
Wo könntest du gezielt Einfluss nehmen und wie?
Wer könnte dich dabei unterstützen?
Welche Verhaltensweisen würden dir helfen, gestärkter damit umzugehen?

Resilienz unterscheidet sich von Selbstwirksamkeit.

 

Während Selbstwirksamkeit das Vertrauen beschreibt, Herausforderungen bewältigen zu können, bedeutet Resilienz, diese Herausforderungen tatsächlich gemeistert zu haben.

Resilient sind wir nicht, weil wir hoffen, stark genug zu sein, sondern weil wir es bereits waren. Es geht nicht nur um ein mögliches Zutrauen, sondern um gelebte Realität.

Resilienz zeigt sich im Rückblick, wenn wir sagen können:
„Ich bin durch diese schwierige Zeit gegangen und ich bin noch hier.“

Selbstwirksamkeit ist dabei ein wichtiger Bestandteil von Resilienz, aber nicht ihre ganze Bandbreite.

Anzuerkennen, dass wir über innere Stärke verfügen, ist gerade in Krisensituationen besonders wichtig.

Viele Menschen bringen bereits eine natürliche Resilienz mit, das zeigen auch die Studien des Psychologen und Trauerforschers George Bonanno. Er hat zahlreiche Menschen begleitet und untersucht, unter anderem Einsatzkräfte nach den Anschlägen vom 11. September.

Von 3000 befragten Polizistinnen und Polizisten - 2527 Männer und 413 Frauen – entwickelten lediglich 7,8 Prozent innerhalb von zwei bis drei Jahren eine posttraumatische Belastungsstörung. Die große Mehrheit fand zurück in ihr seelisches Gleichgewicht.

Wenn man bedenkt, dass wir über 120000 Generationen lang als Jäger und Sammler gelebt haben, wird deutlich: Unsere Überlebenskraft die Fähigkeit, mit schwierigen Situationen umzugehen, ist wohl tief in uns verankert.

Auch wenn wir heute keinem Säbelzahntiger mehr begegnen, tragen wir diese innere Kraft noch immer in uns.

Verletzbarkeit und Stärke gehen Hand in Hand. Ich denke, dass Stärke und Verletzbarkeit eng miteinander verbunden sind.

Menschen, die Schweres erleben, stellen oft die Frage nach dem Sinn – nach dem „Warum?“ „Warum ich? Warum gerade jetzt?“

Hier zeigt sich die tiefe und nachvollziehbare Suche nach Bedeutung und Orientierung. Viktor Frankl sagte einmal:
„Die Frage ist falsch gestellt, wenn wir nach dem Sinn des Lebens fragen. Das Leben ist es, das Fragen stellt.“

Denn unsere Verletzbarkeit macht sichtbar, was uns wirklich wichtig ist. Sie offenbart, wie sehr wir miteinander verbunden sind und erinnert uns daran, dass wir menschlich sind.

Während ich schreibe, denke ich an einen Mann zurück, den ich als Pädagogin eine Zeit lang begleiten durfte.

Er erzählte mir, dass er mit mehreren schweren Krankheiten zu kämpfen hatte, doch diese hätten ihn nie wirklich aus der Bahn geworfen. Was ihn jedoch tief getroffen habe, war eine ganz andere Erfahrung:

Als junger Mann durfte er - trotz Schulabschluss - keine Ausbildung auf dem ersten Arbeitsmarkt machen. Er sagte zu mir:
„Ich habe es nicht verstanden.“

Und für mich klang das fast so, als würde er sagen:
„Ich habe die Welt nicht mehr verstanden.“

Ich kannte seine gesundheitliche Geschichte gut und umso mehr hallte dieser Satz in mir nach. Es war nicht die Krankheit, sondern ein ganz anderes Lebensthema, das ihn so erschütterte.

Das brachte mich zum Nachdenken und erinnerte mich an die Theorie der Salutogenese von Aaron Antonovsky, die Gesundheit mit dem Vertrauen in das Leben verbindet.

Drei Kernbegriffe stehen bei ihm im Mittelpunkt: Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit.

Verstehbarkeit - so, wie er sagte: „Ich habe es nicht verstanden.“ Vielleicht hatte er die Anzeichen nicht erkannt oder nicht erkennen wollen. Vielleicht kam die Absage völlig unerwartet und traf ihn deshalb so tief.

Handhabbarkeit - möglicherweise fehlten ihm damals die inneren und äußeren Kraftquellen, um mit dieser Enttäuschung umzugehen. Als junger Mensch hatte er vielleicht noch nicht das Vertrauen in sich selbst, das einem Halt gibt.

Bedeutsamkeit - eine Ausbildung auf dem ersten Arbeitsmarkt hätte für ihn bedeutet: Ich gehöre dazu. Ich bin wie meine Freunde. Dass ihm dieser Weg verschlossen blieb, war ein tiefer Einschnitt in sein Selbstverständnis. Erst viel später konnte er erkennen, dass auch ein geschützter Arbeitsplatz wertvoll ist, doch damals fühlte es sich vor allem nach Ausgrenzung an.

Verstehbarkeit

Was verstehe ich (noch) nicht?

Was ist gerade unklar?

​​

Handhabbarkeit

Was brauche ich?

Was hilft mir jetzt?

​​

Sinn & Bedeutsamkeit

Was ist mir wichtig?

Wofür lohnt es sich, dranzubleiben?

Image by Jan Huber

Vor einiger Zeit las ich das Buch „Was Nina wusste“ von David Grossman.
Die Figur Vera darin basiert auf der realen Eva Panić-Nahir –
einer Frau, die die Gräueltaten auf der jugoslawischen Gefängnisinsel Goli Otok überlebte.

Beim Lesen stieß ich auf Verse der israelischen Dichterin Lea Goldberg -
Zeilen, die für mich auf stille, aber kraftvolle Weise beschreiben, was Resilienz sein kann:

​​

„Ich werde sein Baum im dunklen Wald –
erwählt vom Licht, das ihn bescheint.“

Diese Worte ließen in mir eine Frage wachsen:
Kann man Resilienz überhaupt lehren?

Vielleicht nicht im klassischen Sinn.
Denn es braucht etwas:
Offenheit.
Für eine innere Bewegung.
Eine Kraft, die uns manchmal selbst überrascht.

Manche nennen sie Gott.
Andere sprechen von Sinn. Von Liebe.
Oder vom Licht.

Vielleicht ist es das Urvertrauen,
eine leise, aber tragende Kraft,
die in uns wohnt.

 

Ein Leben, in dem man sich lässt.

Und dann gibt es Erlebnisse, über die man nicht „hinwegkommt“.
Das ursprüngliche Vertrauen – erschüttert.
Sorgen, die bleiben.

Davon erzählten die Schriftsteller Monika Helfer und Michael Köhlmeier in einem Interview,
als sie über den Tod ihrer Tochter sprachen,
die bei einer Bergtour ums Leben kam.

Michael Köhlmeier sagte,
dass sein Handy seitdem immer neben seinem Bett liege –
bereit für den Anruf, der vielleicht nie kommt
und doch kommen könnte.
Für den Fall, dass etwas mit einem seiner anderen Kinder oder Enkelkinder geschieht.

In dieser Aussage lag für mich etwas Friedliches.
Keine Resignation – sondern Akzeptanz.
Ein Leben, in dem man sich nicht bekämpft,
sondern mit dem lebt, was ist.
Ein Leben, in dem man sich lässt.

​​​

Resilienz ist keine feste Eigenschaft, sondern ein dynamischer Prozess. Sie ist veränderlich, situationsspezifisch, multidimensional – sie zeigt sich in verschiedenen Lebensbereichen.

Welche persönlichen Erfahrungen hast du im Umgang mit dem Thema Resilienz gemacht?

​​

Quellen:

Bonanno, G. A. (2012). Die andere Seite der Trauer. Bielefeld: Aisthesispsyche.

Berndt, C. (2015). Resilienz. München: dtv.

Helfer, M., & Köhlmeier, M. (Interview). Hotel Matze.

Reckwitz, A. (2024, 13. Oktober). Verluste. Suhrkamp Verla

bottom of page